GEO, 11/2005 Von Christian Tröster
Wenn die Zeit der Herbststürme anbricht, drängen die Fluten der Adria gegen Venedig. Im Winter steht der berühmte Markusplatz immer wieder unter Wasser. Um die Lagunenstadt zu sichern, werden nun gigantische Sperrwerke gebaut. Ob sie Rettung bringen oder, ganz im Gegenteil, Schaden stiften, ist unter Venezianern heftig umstritten
WER NACH VENEDIG fährt, sucht den Glanz vergangener Zeiten, nicht die baulichen Merkwürdigkeiten unserer Tage. Doch davon gibt es viele in der Stadt: Da sind etwa die Sockel der Säulenreihen vor ehrwürdigen Palazzi nicht mehr zu sehen, weil das Bodenniveau angehoben wurde; da sind Steckdosen in Erdgeschossräumen auf Kniehöhe installiert. Und wer darauf achtet, entdeckt in den Türrahmen von Restaurants und Boutiquen auf beiden Seiten oft schmale Metallleisten. In diese werden die Bretter eingeschoben, wenn mal wieder eine Überschwemmung droht. Spätestens aber seit im November 1966 große Teile der Altstadt überschwemmt wurden, wissen alle in Venedig, dass Brettchen, kleine Stege und Sandsäcke nicht reichen, um die Stadt auf Dauer zu retten. Zu Überflutungen kommt es seither alle paar Jahre. Zwar ist der Hochwasserrekord von 1966, exakt 1,94 Meter über Normalnull, nie wieder erreicht worden. Aber als der Meeresspiegel im Jahr 2002 auf immerhin 1,47 Meter stieg, entschloss sich das in der Region Venetien zuständige „Comitatone“ unter Führung von Ministerpräsident Berlusconi zum Handeln. Statt kleiner Provisorien sollen nun gewaltige Fluttore helfen, die zusammengenommen rund 1,5 Kilometer Küstenlinie verschließen – ein Großbauwerk, wie die Welt es noch nicht gesehen hat. „Mose“ wurde das Projekt getauft, was an die biblische Teilung des Roten Meeres erinnert und zugleich die Abkürzung ist von „Modulo Sperimentale Elettromeccanico“: experimentelles elektromechanisches Modul. Mit Kosten von 3,4 Milliarden Euro ist Mose eines der größten Infrastrukturprojekte Europas. Knapp 40 Jahre voller Diskussionen liegen zwischen der Rekordflut und der Grundsteinlegung durch den Ministerpräsidenten im Mai 2003. 40 Jahre politischer Streit, einander widersprechende Gutachten, Statistiken und Prognosen. Derart viele Studien wurden angefertigt, dass es scheint, als sei das halbe Menschheitswissen in das Projekt eingeflossen: mit Untersuchungen zu einer von den Philippinen eingeschleppten Muschel oder Nanogramm- genauen Analysen des Sandes in der Lagune. Der Flutschutz wurde im Gemeinderat von Chioggia, einem kleinen Ort südlich von Venedig, diskutiert, war Thema in den Vorstandsetagen der petrochemischen Industrie von Marghera und drang bis zur EU-Kommission nach Brüssel vor. 37-mal wechselte darüber die Regierung in Rom, doch Einigkeit konnte in all den Jahren nicht erzielt werden: Von der Rettung der Serenissima schwärmen die Befürworter des Projektes, während die Gegner den Untergang der Stadt nahe sehen.
Zwei Daten ragen aus dem Wirrwarr der Diskussionen hervor: der Pegelstand von 1,10 Meter und jener von 60 Zentimetern. Ab 60 Zentimeter über Normalnull bekommen die Touristen auf dem Markusplatz nasse Fü.e, ab 1,10 Meter gilt ein Hochwasser als veritable Flut. Nur drei Mal stieg das Wasser zu Beginn des 20. Jahrhunderts über diese Marke. An dessen Ende aber, zwischen 1993 und 2002, mehr als 50 Mal. 1,10 Meter ist die Marke, bei der spätestens vom Jahr 2011 an die Fluttore geschlossen werden sollen.
DIE LAGUNE VON VENEDIG ist ein Flachwassergebiet von etwa der Größe des Bodensees, 15 Kilometer breit, 50 Kilometer lang und meist nur einen Meter tief. Weit vor der Stadt – dort, wo an drei Durchlässen Ebbe und Flut zwischen Adria und der Lagune hin- und herströmen – sollen die Tore installiert werden. Der geplante Mechanismus der Schleusen mutet einfach an: Die Riegel – hohle, stählerne Kästen – sind im Normalfall den Blicken entzogen. Sie liegen, mit Wasser gefüllt, am Meeresboden. Dort sind sie über Scharniere befestigt. Im Flutfall werden sie mit Druckluft befüllt und stellen sich schräg auf: ein Verfahren, das sie unzerbrechlich machen soll. Denn so stehen sie der Flut zwar entgegen, bleiben aber beweglich; halten das Wasser zurück, nicht aber die ganze Kraft der anbrandenden Wellen. Drückt eine Welle aus der Adria gegen die Kästen, senken sie sich Richtung Lagune ab und geben dabei den etwas abgeschwächten Impuls für eine neue Welle. Wie eine gigantische Seeschlange wird man die Rücken der Schleusen in der Dünung wahrnehmen. Doch was da so schmiegsam, beinahe unscheinbar im Wasser schaukeln wird, hat beachtliche Dimensionen. Die Höhe der 78 Stahlkästen schwankt, je nach Meerestiefe, zwischen 18,5 und 29,6 Metern, die Breite liegt bei jeweils 20 Metern, die Dicke zwischen 3,6 und fünf Metern. Weil die Segmente gegeneinander beweglich sein müssen, schließen sie nicht dicht. Durch zehn Zentimeter breite Spalten kann das Wasser zwischen ihnen hindurch in die Lagune schießen. Doch nur 100 Kubikmeter pro Sekunde sollen das sein, an allen Hafeneinfahrten zusammen. So jedenfalls hat es der Ingenieur Attilio Adami vom Zentrum für Hydraulische Studien in Padua ausgerechnet, und er betont: „Das ist wenig!“ Denn zugleich werden ungefähr 10 000 Kubikmeter Wasser zurückgehalten, die bei geöffneten Toren im gleichen Zeitraum in die Lagune geflossen wären. Das Zentrum für Hydraulische Studien in Padua wurde nach der Flut von 1966 zu einem einzigen Zweck gegründet: der Erforschung der Lagune und ihrer Strömungen. Wie viel Mühe dies den Venezianern wert war, zeigt ein Modell, das sich über 16 000 Quadratmeter erstreckt. Maßstabsgetreu sind hier, unter dem Dach einer riesigen Halle unweit eines Kanals, alle Sandbänke nachgeformt, jede Fahrrinne, die Inseln Lido, Murano und jede noch so kleine Fischfarm – dazu Venedig als Massemodell ohne architektonische Details. Ende der 1960er Jahre begonnen und zehn Jahre später fertig gestellt, ist das imposante Modell inzwischen bereits „wissenschaftliche Geschichte“, wie Adami sagt. Die Strömungen in der Lagune werden nunmehr am Computer berechnet. Dennoch: Zur .berprüfung der mathematisch generierten Befunde immer wieder einmal geflutet, gibt die Kunstlandschaft ein anschauliches Bild der Überschwemmungen in Venedig. Das Wasser, so erkennt man hier, kommt nicht aus einer ein- zigen Richtung, wie eine Welle, sondern dringt von allen Seiten gleichzeitig in die Stadt ein: zuerst am Markusplatz, der Insel Giudecca, am Canale di Santa Maria Maggiore, nahe der Rialtobrücke und schließlich an vielen, weit auseinander liegenden Punkten. Auch die Fluttore werden in Padua getestet. Das Modell im Format 1: 10 steht in einer zweiten Halle, in einer Art Swimmingpool. Wenn Attilio Adami darin den Wellengenerator anwirft, beginnen die Modelltore zu tanzen und zu schwanken. „Die Bewegungen“, erläutert der Professor, „sind vergleichbar mit denen eines halb befüllten Tankschiffes“: Weil die Modelle auch im aufgerichteten Zustand noch zum Teil mit Meerwasser gefüllt sind, schwappt diese Flüssigkeit wie im Bauch eines Öltankers hin und her und beeinflusst ihre Bewegungen. „Wir untersuchen auch das Undenkbare“, erläutert Adami. Etwa den extrem unwahrscheinlichen Fall einer vollständigen Blockade aller Kästen, der eintreten könnte, falls sich Steine vom Meeresgrund in sämtlichen Zwischenräumen verkeilten. Gravierendste Konsequenz dieser und anderer Tests war eine Änderung des Neigungswinkels. War zunächst vorgesehen, ein Dümpeln der Module bei 75 Grad zuzulassen, liegen sie nun deutlich weniger steil im Wasser, mit 45 Grad. Andernfalls hätte bei schwerem Wellengang und teilweiser Verkeilung die Gefahr bestanden, dass die Tore in Richtung Adria umschlagen und aus den Scharnieren brechen würden. „Ich hätte nicht im Traum daran gedacht“, sagt auch Alberto Scotti, der Chefingenieur des Mose-Projektes, „welche Art Untersuchungen wir anstellen mussten.“ Allein zwei Jahre lang hat das Consorzio Venezia Nuova, das die Bauarbeiten ausführt, nach der richtigen Position für die Tore in den Laguneneinfahrten gesucht und dafür mehr als 40 Alternativen geprüft. Gewählt wurden am Ende nicht die engsten Stellen – dort wäre die Strömung zu stark gewesen -, sondern jene mit dem stabilsten Untergrund. Insgesamt wurden für Mose über 200 Studien angefertigt. Mehr aber, als die unendlichen Tests es taten, nervt Scotti heute die Haltung einiger Mose-Kritiker: „Viele glauben, Venedig brauche überhaupt keinen großtechnischen Flutschutz.“ Damit meint der Ingenieur Aktivisten wie Fabio Cavolo. Der engagiert sich in einer Umweltschutzgruppe, die zu einem Netzwerk namens „Komitee zur Rettung Venedigs und der Lagune“ gehört.
SEIN BÜRO hat Cavolo, ein studierter Meeresbiologe, in Alberoni, einem kleinen Ort ganz am Ende des Lido, nahe der Malamocco- Einfahrt. „Wir hier auf dem Lido sind allesamt gegen Mose“, sagt er. Vehement bestreitet er zum Beispiel, dass die Installationen unsichtbar seien. Zwar sähe man im Regelfall die Tore selbst nicht – dafür aber die je 200 Meter langen Befestigungsanlagen an den Ufern. 200 000 Tonnen Beton sollen pro Hafeneinfahrt verbaut werden. Davor, auf der Adriaseite, werden zusätzlich noch je ein Quadratkilometer große und zwei Meter dicke Felder aus Felsbrocken aufgeschüttet, um den Meeresboden zu befestigen. In seiner Kritik beruft Cavolo sich auf Bernardino Zendrini, einen venezianischen Ingenieur aus dem 18. Jahrhundert: „Zendrini hat immer versucht, mit dem geringsten Aufwand größtmögliche Wirkung zu erzielen. Hier ist es genau umgekehrt.“ Weil große Fluten wie jene von 1966 oder 2002 nur zweimal pro Jahrhundert vorkämen, sei Mose überdimensioniert, sagt Cavolo, nutzlos und zu teuer. Würde man allein die Unterhaltskosten für das System von jährlich rund acht Millionen Euro in eine Versicherung gegen außergewöhnliche Fluten einzahlen, könnten alle Schäden gedeckt werden. Und gegen die kleineren Überschwemmungen gebe es probatere Mittel als das Sperrwerk: Bereits eine geringe Verflachung der Hafeneinfahrten würde den Wasserstand in der Lagune um mehr als 20 Zentimeter verringern. Das allerdings scheint weder in Venedig noch in den Lagunenstädten Mestre oder Chioggia durchsetzbar zu sein. In Mestre und Marghera wird der Verlust von Arbeitsplätzen in den Häfen befürchtet, sollten sie von großen Tankschiffen nicht mehr angesteuert werden können. Würden schließlich die Passagierschiffe nicht mehr vor dem Palazzo Ducale – dem Dogenpalast – kreuzen, gäbe es nicht nur Millionen von Fotos weniger, sondern wohl auch einen Umsatzrückgang bei Maskenshops und Murano-Glasbläsern. Am Ende hat sich das Projekt Mose auch deshalb gegen mögliche Alternativen durchgesetzt, weil dank der Fluttore vieles so wird bleiben können, wie es ist. Chefingenieur Alberto Scotti bekommt noch von anderer Seite Kritik. So beklagt etwa der Umweltverband Italia Nostra, dass die Flutschutzmaßnahmen komplett und ohne Wettbewerb dem Consorzio Venezia Nuova, einem Zusammenschluss italienischer Baufirmen, in die Hände gegeben wurden. Dessen Auftraggeber ist eine Staatsbehörde namens Magistrato alle Acque. Das Consorzio, so die Umweltschützer, habe seither ein Monopol sowohl auf die Bau- als auch auf die Forschungsarbeiten. Alternative Pläne seien daher nicht ausreichend untersucht worden. Zudem sei die Vergabe der Bauaufträge vom Consorzio an sich selbst, nämlich an die eigenen Partnerfirmen, nicht zulässig. Italia Nostra klagte dagegen zuerst vor nationalen Instanzen; dann, 1998, reichte der Verband Beschwerde bei der Europäischen Kommission ein. Die Klage wurde angenommen, und die Kommission eröffnete ein Verfahren wegen Übertretung europäischer Richtlinien. 2002 aber wurde die Untersuchung abgeschlossen und eine Lösung auf politischer Ebene gefunden. Ein Teil der Bauarbeiten muss seither öffentlich ausgeschrieben werden – ein Erfolg der Klage. Doch konsterniert stellten die Umweltaktivisten wiederum fest, dass die Wettbewerbe nicht von neutraler Seite organisiert werden, sondern vom Konsortium selbst. Italienische Verhältnisse? „Keineswegs“, weist Maria Giovanna Piva, die Chefin des Magistrato alle Acque, derartige Anschuldigungen zurück. „Solche Konsortien sind europaweit üblich.“ Auch bei vergleichbaren Projekten wie etwa dem Themse-Sperrwerk.
VON DER MEGA-SCHLEUSE in England unterscheidet sich das venezianische Projekt vor allem durch die größere Reichweite, denn es umfasst die ganze Lagune, ein Gebiet von 550 Quadratkilometern. Und die Fluttore sind nur ein bedeutendes Teilstück in einem ausgeklügelten Masterplan. An 67 Baustellen wird in der Lagune derzeit gearbeitet: von großen Wellenbrechern in der Adria über neue Uferbefestigungen an der Insel St. Erasmo bis zur behutsamen Sanierung von Salzmarschen – flachen Inseln in der Lagune, die durch den Wellenschlag der Schiffe verstärkt erodieren. „Die meisten Menschen glauben, die Lagune sei ein natürlich entstandener Raum“, sagt der Ingenieur Piero Nascimbeni. Doch sei dies höchstens zur Hälfte richtig. Schon seit Jahrhunderten hegen und pflegen die Venezianer die Lagune wie einen Garten. Sie ist ein Ökosystem, das ohne Eingriffe des Menschen nicht mehr existieren würde. „Venedig“, erläutert auch Francesca de Pol vom Consorzio Venezia Nuova, „war die einzige mittelalterliche Stadt ohne Stadtmauer.“ Das Wasser diente als Schutzwall, und Venedig zu verteidigen bedeutete immer, die Lagune zu erhalten. Damit diese blieb, wie sie war, musste ein Gleichgewicht hergestellt werden zwischen der von den Flüssen verursachten Versandung und der Erosion durch das Meer. Wobei der Sand die größere Bedrohung war: Von den einst zahlreichen Lagunen in der nördlichen Adria existieren nur noch zwei. Alle anderen sind versandet und lange schon Teil des Festlandes. Um eben dies vor der eigenen Haustür zu verhindern, scheuten die Venezianer auch große Eingriffe nicht. So wurden die Mündungen der Flüsse Brenta und Piave seit dem 14. Jahrhundert mehrfach verlegt. Im 17. Jahrhundert wurde die Sile, ein weiteres Flüsschen, in das ehemalige Bett der Piave gelenkt. Und 1609 kappten venezianische Ingenieure einen großen Arm des Po-Deltas, das sich seither nur noch südlich und östlich ausbreitet, nicht aber nördlich – denn dort liegt Venedig. Was auf diese Weise erhalten wurde, ist also nicht ursprüngliche Natur, wohl aber ein Ökosystem von großer Reichhaltigkeit. Das flache Wasser ist von Prielen durchzogen, kleine Inseln wechseln mit Salzmarschen, Schilffelder mit Wattenmeer. Gefährdet sind diese für eine Lagune typischen Lebensräume vor allem im Bereich südwestlich von Venedig. Hier wird das Wasser durch die Ausbaggerung der Fahrrinnen und die Erosion immer tiefer, die Artenvielfalt geht zurück, das Gebiet nimmt den viel einfacheren Charakter einer Meeresbucht an. Restaurierung und neue Aufspülung von flachen Inseln, teils nach alten Karten, sollen diesem Prozess Einhalt gebieten – auch das ist ein Teil von Mose. Andere Teile der Lagune werden schon seit Jahrzehnten für die Fischzucht genutzt. Die Farmen, insgesamt 90 Quadratkilometer groß, sind durch Dämme dem Wechsel von Ebbe und Flut entzogen. Die Idee, diese Gebiete als Ausweichfläche für Hochwasser zu öffnen, weist der Ingenieur Piero Nascimbeni zurück: „Das würde nur zwei Zentimeter Entlastung für Venedig bedeuten.“ Doch wurde da nicht, während man um wenige Zentimeter Wasserstand rang, eine ganz andere Marke übersehen? Jener halbe Meter nämlich, der zwischen den Pegelständen 60 Zentimeter und 1,10 Meter über Normalnull klafft? Mithin zwischen dem Zeitpunkt, an dem erste Pfützen auf dem Markusplatz stehen, und jenem, an dem die Fluttore geschlossen werden sollen? 1,10 Meter ist keine rein technische, sondern auch eine symbolische Grenze. Bei diesem Hochwasserstand nämlich leckt die Flut genau an den Sockeln jener beiden Säulen, die den Abschluss des Markusplatzes zur Lagune markieren. Diese Colonne di Marco e Todaro, mit den Zeichen der Stadtpatrone Markus und Theodor, sind damit die kunstvollsten Wasserstandsanzeiger der Welt.
WARUM ABER SOLLEN die Tore nicht schon bei 60 Zentimetern hochgezogen werden? Weil solche „kleinen“ Fluten so häufig sind, dass eine zeitige Schließung der Hafeneinfahrten unabsehbare Folgen für das Ökosystem und für den Schiffsverkehr hätte. So gab es im Herbst 2002 binnen dreier Wochen 15 Mal einen Wasserstand von mehr als einem Meter. Bei geschlossenen Toren wäre die Lagune genauso oft für Stunden verriegelt gewesen. Übler Effekt: Venedig, dessen Abwässer größtenteils ungeklärt ins Meer laufen, wäre womöglich an seinen eigenen Ausscheidungen erstickt. Für „kleine Fluten“ suchten Venedigs Bauherren folglich die kleine Lösung: die Erhöhung der Kaimauern und Bürgersteige. Allerdings werden dadurch Haustüren und Hofeingänge immer niedriger. Und an bedeutenden Orten wie dem Markusplatz setzt der Denkmalschutz Grenzen: Die Proportionen der umliegenden Arkaden würden nämlich durch das Anheben des Platzes verfälscht. Und noch ein weiteres Problem haben die Planer zu bewältigen. Die Piazza San Marco liegt niedriger als die Mole mit den beiden Säulen. Daher sprudelt es selbst bei der kleinsten Flut aus den Sielen wie aus schmutzigen Quellen. So wird gegenwärtig die Mole, die derzeit noch kein einheitliches Niveau hat, bis auf 1,10 Meter angehoben, auf die Höhe der Colonne di Marco e Todaro. Dazu wird das alte Straßenpflaster Stein für Stein abgetragen, gereinigt und nach dem Aufschütten des Kais wieder an seiner ursprünglichen Position verlegt. Überdies werden die historischen Abwassersiele erneuert – wenn auch nur, um sie danach stillzulegen. Denn sogar Unterirdisches steht am Markusplatz unter Denkmalschutz. Mit Akribie werden die Ziegelstein-Tunnel freigelegt, untersucht, wenn nötig neu aufgemauert und dann mit Sand verfüllt. Erst danach kommen die neuen Rohre unter das Pflaster. An ihren Ausgängen in die Kanäle sind sie mit Ventilen gegen das Eindringen des Lagunenwassers gesichert.
IRGENDWANN AB 2011 soll der Markusplatz dauerhaft trocken, sollen die Ufer an den Inseln stabilisiert, die Fluttore einsatzbereit sein. Und dann? Dann „wenden wir uns neuen Fragen zu“, sagt Pierpaolo Campostrini. Campostrini ist Direktor von Corila, einem weiteren Institut, das eigens zur Sicherung von Venedigs Zukunft gegründet wurde. Seinen Sitz hat es im neugotischen Palazzo Franchetti, unweit der Accademia- Brücke. Geforscht wird hier über ein breites Themenspektrum: von der Renaturierung ehemaligen Industriegeländes in Porto Marghera bis zur Analyse von historischen Hausfassaden. Von Mitarbeitern des Corila-Instituts stammt die Idee, Venedig insgesamt anzuheben – irgendwann einmal, wenn der Meeresspiegel so weit ansteigen sollte, dass auch das Mose-System nicht mehr griffe. „30 Zentimeter in zehn Jahren sind machbar“, erläutert Campostrini: „Natürlich ist dieser Vorschlag noch eine akademische These.“ Aber eine, die aufmathematischen Modellen und geologischen Kenntnissen beruht. Der verwegene Plan: In undurchlässige Schichten unter der Stadt könnte Wasser gepumpt werden. Oder auch Kohlendioxid – auf diese Weise könnte zugleich ein wenig von dem klimaschädlichen Gas aus der Atmosphäre entsorgt werden. In jedem Fall aber würde eine sanfte Aufwärtsbewegung der Stadt bewirkt. Auf umgekehrtem Wege hat Venedig in den 1960er und 1970er Jahren immerhin rund 20 Zentimeter Höhe verloren. Da hatte die in Mestre und Marghera angesiedelte Industrie große Mengen Grundwasser abgezapft und das Absinken der Stadt noch beschleunigt. Damals schon war die Möglichkeit diskutiert worden, das Wasser wieder zurückzupumpen. Doch die betroffenen Schichten liegen nur rund 50 Meter tief. Die Anhebung hätte nicht gleichmäßig bewerkstelligt werden können und womöglich die historischen Gebäude gefährdet. Mit moderner Ausrüstung aber wäre es möglich, Schichten in 600 bis 800 Meter Tiefe zu erreichen. „Flüssigkeiten in den Untergrund zu pumpen, ist eine etablierte Technik“, sagt Campostrini. „Wir müssen nicht Neues erfinden.“ Das Verfahren werde in der Ölindustrie verwendet, um Setzungen zu verhindern oder den Druck für die Förderung zu erhöhen. Die Gefahr, dass einmal versenktes Kohlendioxid – ein Gas, das sich unter dem Druck in der Tiefe verflüssige – wieder austrete, sei zu vernachlässigen. „Menschen leben doch überall auf Erdöl oder Erdgas, ohne es zu wissen. Das ist nicht wie im Comic Strip, wo man in den Boden sticht, und dann sprudelt es“, fügt Campostrini an. Projekte für übermorgen. Zunächst muss der Status quo geschützt werden. Wenn sich irgendwann ab dem Herbst 2011 die Tore der Flutschutzanlage zum ersten Mal schließen, könnte dies einen seltsamen Effekt haben: Mose, jahrzehntelang diskutiert, bekämpft, verteidigt, verschwände womöglich aus dem Bewusstsein. Und niemand mehr würde etwas Besonderes daran finden, auch im Winter trockenen Fußes über die Piazza San Marco zu gehen.
Der Hamburger Journalist Christian Tröster, hier mit dem Ingenieur Alberto Scotti, hat bei vielen Venedig-Besuchen das Wasser aus den Sielen des Markusplatzes sprudeln sehen – und war immer schon neugierig darauf zu erfahren, wie dem abgeholfen werden könnte.