Spiegel Special, 24.6.2008
DIE MATERIALIEN, VON DENEN DESIGNER TRÄUMEN, SIND FUTURISTISCHE KUNSTSTOFFE: PLASTIK, DAS SICH ENDLOS DEHNT, OHNE ZU REISSEN – HART UND FLEXIBEL ZUGLEICH.
Von CHRISTIAN TRÖSTER
Zerknüllbare Bildschirme, flummiartig hüpfende Kameras oder auf den Leib aufgesprühte T-Shirts? Echt? Whow! Genau: Zum Stöhnen gute Stoffe, „Whow-Materials“, haben Ingenieure sie getauft: Substanzen, für die die physikalischen Naturgesetze scheinbar nicht gelten. Die Zukunft wird mit ihnen quasi greifbar.
Schon Metalllegierungen der menschlichen Vorgeschichte wie Bronze waren namengebend für eine ganze Epoche. Der gemeinsame Nenner der Whow-Materialien heißt Plastik.
„Wir leben im Kunststoffzeitalter“, sagt Ulrich Endemann, 48. Der Verfahrenstechniker mit der randlosen Brille managt das Designlabor des Chemiekonzerns BASF in Ludwigshafen. „Es begann vor 50 Jahren, und sein Ende ist noch lange nicht in Sicht.“
Ende der Achtziger überholten Kunststoffe vom Volumen her Stahl. Die Zahl ihrer Materialvarianten, ihrer Neu- und Weiterentwicklungen ist so unüberschaubar wie die Artenvielfalt im Regenwald. In Endemanns Räumen lagern dehnbare Folien, dünn wie Fledermausflügel, dabei samtig und kratzfest. Es gibt hier Kotflügel, die ihre Dellen selbst wieder ausbeulen, und Kieselsteine, die mit einem neuen Kleber so fest verbunden sind, dass sie einem Tsunami standhielten. Von Nanopartikeln schließlich schwärmt der Ingenieur, die so leicht seien, dass sie in der Luft wie Nebel stünden.
So produktiv sind die Chemiker, dass sie zuweilen selbst nicht wissen, was sie mit ihren Erfindungen anfangen sollen. Wozu auch braucht man Glasfasern, die in eine Wurst aus schwarzem Schaumstoff eingegossen sind? Oder grüne Plastikplatten, die aus Rizinusöl synthetisiert wurden?
„Gemeinsam mit Designern suchen wir nach neuen Anwendungen für unsere Stoffe“, sagt Endemann. In Workshops erhalten die Kreativen hier chemietechnische Unterstützung, um mit ungewohnten Materialien zu gestalten – mal mehr, mal weniger futuristisch. Denn zuweilen sieht das Morgen aus wie das Gestern. Der Ingenieur deutet auf die sturmflutsicher verklebten Kiesel auf seinem Tisch: „Daraus könnte man einen Tischspringbrunnen machen.“
In Endemanns Abteilung entstand kürzlich erst der Stuhl Myto von Konstantin Grcic. Seinen Look verdankt der Freischwinger dem Kunststoff Ultradur High Speed, chemisch: Polybutylenterephthalat. Dank zugesetzter organischer Nanopartikel kann er bei geringeren Temperaturen verarbeitet werden als übliche Kunststoffe und fließt schneller in feine Gussformen. Er lässt sich auch mit mehr Glasfasern verstärken, um dünnwandigere Teile zu produzieren. Der israelische Designer Assa Ashuach konnte mit einem ähnlichen Material eine Plastikbank extrem in die Breite ziehen – mit dennoch filigraner Sitzfläche. Dem britischen Star-Designer Ross Lovegrove gelang daraus „Supernatural“: ein zierlicher Stuhl in futuristisch-organischer Anmutung.
Weichgeschwungene Formen gelten derzeit als Ausweis der neuen Technologien. Doch anders als in den Siebzigern, als schon einmal Gewölbtes und Gebogenes Trend war, geht es nicht um die Imitation organischer Formen, sondern organischer Strukturen. Mit High-End-Materialien und Hochleistungsrechnern ahmen Designer den Aufbau von Zellen, Blättern oder Wurzeln nach.
So entwickelte der niederländische Designer Joris Laarman eine Serie von Sitzmöbeln, deren Form im Computer gewachsen ist. Nur Grundparameter wie Größe und ungefähre Gewichtsverteilung gab der Designer dazu in den Rechner ein. Die Stützen für das Möbel errechnete der Computer analog zu Wachstumsdaten von Knochen. Wo viel Druck ausgeübt wird, sieht das Rechenmodell mehr, wo wenig, auch weniger Material vor. Das Ergebnis wirkt zwar, als hätten Käseschlieren auf der Pizza als Vorbild gedient, folgt aber einer laut Laarman höchst effizienten Logik.
Die Sitzmöbel des Niederländers wurden bislang in kleinen Auflagen und mit herkömmlichen Produktionsmethoden gebaut – der „Bone Chair“ in Aluminium, die „Bone Chaise“, eine Chaiselongue, in Kunststoff. Immer mehr Whow-Möbel indes entstehen heute mit Hilfe eines Whow-Verfahrens: dem „Rapid Prototyping“.
Dabei wird das jeweilige Objekt – egal ob Lampe, Hocker oder Vase – am Bildschirm entworfen und dann dreidimensional „ausgedruckt“. Statt Tinte verarbeiten die Rapid-Drucker Kunstharz, Plastik, Keramik oder sogar Metallpulver, das mit einem Laser punktgenau geschmolzen wird. Schicht für Schicht, Zehntel Millimeter um Zehntel Millimeter, spucken die Monsterdrucker die Objekte aus.
Mit dem vor 20 Jahren erfundenen Verfahren kann man heute nicht mehr nur Modelle (Prototypen), sondern – bis zu einer gewissen Größe – gebrauchsfertige Endprodukte herstellen. Rapid Prototyping hat unschlagbare Vorteile, wenn es um komplexe, sich überschneidende Formen in kleiner Auflage geht. Sie können in nur einem einzigen Arbeitsgang gefertigt werden.
Erst diese Technik machte eine Lampe wie „Quin“ möglich. Das Objekt, das die amerikanische Künstlerin Bathsheba Grossman für die Firma Materialise MGX im belgischen Leuven entwarf, hat die Form eines Dodekaders, eines regelmäßigen, zwölfseitigen Körpers. Statt aber dessen Flächen klassisch mit geraden Kanten zu verbinden, hat Grossman sie kompliziert ineinander verschlungen. Das Ergebnis hat eine Geometrie, die als Kampf der Seesterne beschrieben werden kann. Grossmans Kollege Patrick Jouin ersann einen zwölfbeinigen Hocker, der sich mit Bezug auf das Herstellungsverfahren „One Shot“ nennt. Das Sitzobjekt lässt sich spiralförmig zusammenfalten; die nötigen 24 Gelenke wurden einfach mit ausgedruckt. Weitere Arbeitsschritte sind nicht erforderlich. Mit dem Hocker erwirbt der Käufer eine CD mit dessen Datensatz. Er könnte damit, besäße er eine entsprechende Anlage, One-Shot-Klone ausdrucken.
Bis zur Massentauglichkeit der Rapid-Verfahren ist es aber noch ein weiter Weg. „Die billigsten Maschinen kosten heute 15 000 Euro“, sagt Rudolf Meyer von der Fraunhofer Allianz Rapid Prototyping in Magdeburg, „eine Version für 2000 bis 3000 Euro ist angekündigt, wurde aber noch nicht vorgestellt.“
Ganz andere Pfade der Innovation schlagen die österreichischen Designer Christoph Fürst und Herwig Bartosch ein. Sie experimentieren mit einem Stuhl aus bio-basierten Kunststoffen. Letztere werden nicht aus Erdöl gewonnen, sondern aus Agrarabfällen wie Schilf, Zuckerrohrmaische oder Hanf. Weil es sich dabei um nachwachsende Rohstoffe handelt, ist der Kunststoff CO2-neutral – und damit klimafreundlich.
Techniker wie der BASF-Ingenieur Ulrich Endemann halten solche Erfindungen für Folklore. „Natürlich sind wir für die Kunststoffproduktion nicht allein auf Erdöl angewiesen. Aber bio-basiert heißt nicht automatisch biologisch abbaubar. Für eine faire Bewertung von Materialien muss man den gesamten Lebenszyklus eines Produkts untersuchen.“
Oft schnitten erdölbasierte Kunststoffe erstaunlich gut ab. Zum Beispiel Neopor: Das Material ist eine Weiterentwicklung von Styropor und sieht auch so aus, bloß grau. Die Farbe rührt von Nanopartikeln aus Graphit. Sie mindern die Temperaturleitfähigkeit des Stoffes. Isolierte man ein Wohnhaus aus den sechziger Jahren mit Neopor, rechnet Endemann vor, würde der Besitzer bereits in sechs Monaten so viel Heizöl einsparen, wie zur Herstellung des Isoliermaterials benötigt wurde.
Whow ist in diesem Fall vor allem die Ökobilanz.
CHRISTIAN TRÖSTER